Plenarrede: Heraus­forderungen an die Bildungs- und Schulpolitik in SH

Published28. November 2022

AuthorMartin Balasus

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Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

22 Jahre schockten die Ergebnisse der Pisa-Studie die deutsche Öffentlichkeit. Die Empörung war damals groß. Intensiv wurde über die Ursachen diskutiert, dann wurde gehandelt und anschließend ging es mit der deutschen Schulbildung wieder bergauf.

Nun liegen uns die Ergebnisse der Nachfolgestudie vor: des IQB-Bildungstrends, der ebenfalls ein düsteres Bild zeichnet:
Die Auswertungen der Vergleichsstudie für den Primarbereich haben gezeigt, dass in ganz Deutschland immer mehr Grundschülerinnen und -schüler nicht die Mindeststandards erreichen. Besondere Defizite herrschen in den Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen vor. In Mathematik hat der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die den Mindeststandard nicht erreichen, seit 2016 bedeutsam zugenommen. Auch im Lesen und der Orthografie sind Defizite zu verzeichnen – einzige Ausnahme stellt die Kompetenz Zuhören dar, wo unsere Kinder an der Bundesspitze stehen.

Wenn man das Gesamtbild betrachtet, müssen wir feststellen: Damit können wir nicht zufrieden sein! Und es besteht dringender Handlungsbedarf. Doch wo liegen die Ursachen?

Natürlich haben die coronabedingten Schulschließung, Distanz- oder Wechselunterricht für eine deutliche Verschlechterung der schulischen Kompetenzen gesorgt. Deshalb sage ich ganz klar: Schulschließungen darf es nie mehr geben! Aber wir sollten nicht den Fehler machen, jetzt ausschließlich Corona für den Leistungsabfall verantwortlich zu machen. Corona wirkte eher wie ein Katalysator für Entwicklungen, die schon vorhanden waren.

Unsere Schülerschaft hat sich gewandelt. Sie ist weitaus heterogener als vor einigen Jahren: Stadt oder Land, bildungsfern oder bildungsnah, steigender Migrationsanteil durch die Flüchtlingskrise, immer weniger Unterstützung in den Elternhäusern und so weiter. Allgemeine gesellschaftliche Trends wie ein zunehmender Medienkonsum oder dass immer seltener vorgelesen wird (Ergebnis der Stiftung Lesen aus der letzten Woche), verschärfen noch diese Situation. Und all dies fordert die Lehrkräfte in besonderer Weise: So unterrichten zum Beispiel Grundschullehrkräfte auf zahlreichen Niveaustufen. Manchmal haben sie es in ihren ersten Klassen mit Kindern zu tun, die kaum Deutsch sprechen, bis hin zu jenen, die bereits sicher lesen können.

In meiner Wahrnehmung drehten sich in Deutschland die Bildungsdebatten häufig um die falschen Fragen, um Nebensächlichkeiten, die von den wahren Herausforderungen ablenken. Im Fokus müssen von nun an der umfassende Erwerb und die Förderung der Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen stehen. Aus diesem Grund wird die Landesregierung für eine zusätzliche Stunde Deutsch und Mathe in der ersten und zweiten Klasse sorgen: Es soll nicht einfach mehr Unterricht sein, es muss schon Mathe und Deutsch sein, schließlich sind diese Fächer maßgeblich für den Erfolg in allen Unterrichtsfächern.

Insgesamt sollten wir uns mehr mit dem Elementarbereich beschäftigen. Die Grundlagen für das Lernen werden im frühkindlichen Alter gelegt. Es braucht im Kita- Alter mehr und frühzeitige Sprachstandsdiagnostik und bei Handlungsbedarf anschließend eine systematische Förderung der Kinder. Hier kann uns Hamburg als Vorbild dienen, wo der Sprachstand aller Viereinhalbjährigen erhoben wird. Anschließend in der Grundschule sollten mehr Lernstandserhebungen aufzeigen, wie das einzelne Kind entsprechend seiner individuellen Bedürfnisse gefördert werden kann. Wichtig wäre mir, dass diese Förderprogramme auch verbindlich umgesetzt werden und es nicht bei bloßen Lippenbekenntnissen bleibt.

Da der sozioökonomische Status weiterhin Auswirkungen auf den Schulerfolg hat, ruhen meine Hoffnungen auch auf dem Ausbau unseres Perspektivschulprogramms und deren Ausweitung auf den Kita-Bereich (Perspektiv-Kitas). Programme wie „Aufholen nach Corona“ müssen fortgesetzt werden: Lernchancen:SH, Niemanden zurücklassen: „Mathe oder Lesen macht stark“ etcetera gilt es zu intensivieren.

Dass unsere Landesregierung um den Stellenwert der Sprache für die Entwicklung und die Zukunft der Kinder und Jugendlichen weiß, hat sie erst vor kurzem bewiesen. Sie hat die Sprach-Kitas gerettet, als sich die Ampel auf Bundesebene aus der Verantwortung gestohlen hat.

Angesichts der besorgniserregenden Ergebnisse des IQB-Bildungstrends sollten wir jetzt vom Reden ins Handeln übergehen. Wir brauchen eine Gesamtstrategie, um die Leistungen in den Basiskompetenzen zu verbessern: Der gesamte Bildungsverlauf soll in den Blick genommen werden, alle Phasen der Lehrkräftebildung oder die Verbesserung des multiprofessionellen Arbeitens. Wichtig ist, dass die Umsetzung der getroffenen Maßnahmen auch überprüft wird.

Im Kontext der Ergebnisse der IQB-Bildungsstudie wurde auch die Frage über den Stand der Inklusion gestellt. Mit unserem Antrag „Rahmenkonzept zur Etablierung von Campusklassen“ wollen wir denjenigen Schülerinnen und Schülern das Leben und Lernen leichter machen, für die Schule eine größere Herausforderung bedeutet als für andere Kinder und Jugendliche. Wir möchten ihnen bessere Möglichkeiten geben, sich zu entfalten. Sie haben genauso ein Anrecht auf die Förderung ihrer geistigen Entwicklung wie alle anderen. Und mit den Campusklassen schaffen wir mehr Chancengerechtigkeit für sie. Kinder aus Förderzentren werden Campusklassen in Regelschulen besuchen – das ist ein wichtiger Baustein zur Inklusion. Jedes Kind ist verschieden. Jedes hat seine Schwächen und vor allen Dingen Stärken.

Das ist natürlich nicht anders als bei Kindern ohne den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Der eine ist gut in Musik, die andere in Naturkunde. Nur haben sie ein homogeneres Grundniveau, das jene Kinder, für die Campusklassen gedacht sind, nicht immer erreichen. Aber auch sie haben natürlich Stärken und die bringen wir durch die Möglichkeiten der Campusklassen besser ans Licht, indem wir die Durchlässigkeit zum Regelunterricht verbessern.

Ein Beispiel macht es deutlich: Ein Kind ist vielleicht lernverzögert beim Lesen und Schreiben, hat aber andererseits eine Stärke im mathematischen Bereich. Dann wird dieses Kind in Mathe am Regelschulunterricht teilnehmen können, während es in der Campusklasse in Ruhe am Lese- und Schreibthema arbeiten kann, ohne von den Anforderungen des Deutsch-Regelunterrichts überfordert und frustriert zu werden.

Man stelle sich vor, welche Erfolgserlebnisse und Motivationsschübe diese Differenzierung für die Kinder mit sich bringen kann! Campusklassen sind also eine ideale Möglichkeit, individuell auf jeden Schüler, auf jede Schülerin einzugehen. Wir wollen Kinder dort abholen, wo sie stehen, und sie dann optimal fördern.

Und das Beste am Konzept der Campusklassen: Für Kinder, die bereits Schulen mit Campusklassen besuchen (z.B. in Süderbrarup) ist Inklusion überhaupt kein Thema. Kein Kind fragt dort, warum ist das so? In ihrer Vorstellung ist jede Schule so konzipiert. Jeder lernt von und mit dem anderen – jedes Kind arbeitet dort, wo es hingehört – ganz nach seinen Begabungen. Und alle Kinder kommen untereinander in Kontakt – entweder im Unterricht oder bei Ausflügen, in der Cafeteria oder dem Pausenhof.

Schülerinnen und Schüler mit Handicap kommen so aus der Komfortzone der Förderzentren heraus – alle anderen lernen einen rücksichtsvollen, selbstverständlichen Umgang.

Campusklassen – das bedeutet: So viel Integration wie möglich – aber so viel Differenzierung wie nötig. Doch alle Bemühungen zur Verbesserung des schulischen Unterrichts werden keine Früchte tragen, wenn wir nicht mehr Lehrkräfte gewinnen.

Im letzten Schuljahr ist mehr Unterricht ausgefallen oder er ist improvisiert erteilt worden, durch zum Beispiel eigenverantwortliches Arbeiten. Und das ist natürlich sehr bedauerlich. Ein höherer Krankenstand, Quarantäneregelungen oder nachgeholte Klassenfahrten sorgten unter anderem dafür.

Vor allem aber spüren wir die Auswirkungen des Lehrkräftemangels. Die Generation der Babyboomer geht sukzessive in Pension und zu wenige junge Pädagogen kommen nach. Diese bundesweite Entwicklung trifft Schleswig-Holstein noch weniger als andere Bundesländer, sie ist aber vorhanden.

Die Gewinnung neuer Lehrkräfte, die Begeisterung von Studentinnen und Studenten für den Beruf des Lehrers/ der Lehrerin ist die zentrale Herausforderung der Bildungspolitik. Ich freue mich schon auf die ersten Vorschläge der Allianz für Lehrkräftebildung, die wir Ende des Jahres erwarten.

Ideen gibt es viele: Mehr Seiten- und Quereinstiege (natürlich mit ausreichender pädagogischer Nachqualifizierung), Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse, der Ein-Fach-Lehrer, das Ermöglichen von dualen Berufsbiografien oder die Senkung der Studienabbrecherquote durch mehr Praxisbezug im Studium. Denkbar wäre auch, den Kontakt zwischen Lehramtsstudenten und den Schulen zu intensivieren, um mehr zukünftige Studenten zu gewinnen.

Sie sehen, nur ein Strauß von kreativen Lösungsideen hilft, das professionelle Personal für eine qualifizierte Bildung unserer Kinder zu gewinnen.

Es gibt aber auch etwas, das wir alle tun können. Lehrerinnen und Lehrer verdienen mehr Respekt. Sie haben nicht nur während Corona Herausragendes – manchmal bis weit über die Belastungsgrenze – geleistet.

Die Anforderungen an das Berufsbild steigen kontinuierlich, Unterricht ist nur eine Aufgabe von vielen. Und dies muss durch die Gesellschaft mehr Würdigung erfahren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Herausforderungen an unsere Schulen sind vielfältig und groß. Wir müssen sie weiter angehen. Nun heißt es: Ärmel hochkrempeln und handeln. Ganz so wie es vor 22 Jahren bei Pisa getan wurde – dann geht es auch wieder bergauf!

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